Fahrten in ein unbekanntes Land

Hans Zaremba mit Lippstädter Betrachtungen nach dem Mauerfall vor 30 Jahren

Als vor drei Jahrzehnten durch die Ankündigung des damaligen Politbüromitglieds der SED, Günter Schabowski, vor der in Ost-Berlin versammelten internationalen Presse „Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen, Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse beantragt werden“ und seiner zusätzlichen Anmerkung „sofort, unverzüglich“ der rasche Fall der Berliner Mauer besiegelt war, wurden an zahlreichen anderen Stellen in Deutschland beachtliche Aktivitäten ausgelöst. So auch bei den Lippstädter Sozialdemokraten, die zügig ein breites Kontaktnetz zur der gerade wiedergegründeten Sozialdemokratie in der DDR und insbesondere im sächsischen Oschatz aufbauten.

Was folgte, waren Fahrten in ein unbekanntes Land, die vor 30 Jahren von einigen Lippstädter SPD-Mitgliedern in die noch bestehende DDR unternommen wurden. Kaum jemand von den Teilnehmern dieser Touren zum Aufbau einer demokratischen Struktur in Oschatz und der benachbarten Region war zuvor häufiger im zweiten deutschen Staat gewesen. Mit dem Landstrich zwischen Elbe und Oder verbanden bis zur politischen Wende und dem Mauerfall auch viele Sozis an der Lippe überwiegend Trostlosigkeit und vor allem eine unangenehme Begegnung mit den staatlichen Organen beim Grenzübertritt oder auf den Reisen nach Berlin und zurück. Unabhängig von diesen unbehaglichen Erfahrungen begaben sich etliche der heimischen SPD-Mitglieder – darunter auch noch heute aktive Lippstädter Kommunalpolitiker – mit reichlicher Beklommenheit auf die ersten Reisen mit dem Auto von Lippstadt in die Kreisstadt im Tal der Döllnitz, die als linker Nebenfluss etwa 15 Kilometer weiter östlich bei Riesa in die Elbe mündet, um sich bei der Entfaltung der Demokratie einbringen zu können. Immerhin war die DDR auch nach der Öffnung ihrer Grenzen noch Mitglied des Warschauer Paktes und kein Rechtsstaat nach der in Westdeutschland bekannten Lesart. Doch alle Lippstädter Sozis waren beseelt, die Sozialdemokratische Partei im Osten von Deutschland zu stärken. Dies vor allem, um die DDR-SPD im Wettbewerb gegenüber der allmächtigen PDS, die unter Gregor Gysi das SED-Erbe übernommen hatte, zu unterstützen. Die erste Hilfe war praktisch angelegt. Schreibmaschinen und Druckautomaten wurden von Westfalen nach Sachsen gebracht. Personalcomputer und andere elektronische Raffinessen gab es während der Wendezeit 1989/90 noch nicht in der heute bekannten Breite. Auf die technischen Instrumente aus dem Westen waren die jungen engagierten Leute in Oschatz angewiesen, wenn sie gegen den im Dezember 1989 von den Nachfolgern des greisen Politbüros übernommenen riesigen Apparat der bis dato das politische und gesellschaftliche Leben ganz und gar beherrschenden Einheitspartei nicht untergehen wollten. Diese technische Ausstattung war eine wesentliche Voraussetzung für die Eröffnung des ersten Parteibüros der Oschatzer SPD, bei dem auch Unterstützer aus Lippstadt am Sonntag, 28. Januar 1990, in dem bis Ende 1989 von der SED als Bildungszentrum genutzten Gebäude zugegen waren. Die von den Vorbesitzern bei ihren ideologischen Schulungen verbreiteten Losungen waren noch als Kreide-Aufschrieb auf den Wandtafeln zu erkennen.

Aber nicht nur Geräte und Papier waren bei den jungen Sozialdemokaten im anderen Teil von Deutschland gefragt. Sie mussten auch lernen, wie sich die Abläufe des politischen Alltags in einem föderal ausgerichteten Land mit kommunaler Selbstverwaltung darstellten, was sie als Bürger eines diktatorisch regierten zentralistischen Staates nicht kannten. Das Grundwissen über die Politik in der Bundesrepublik wurde ihnen später Mitte Februar 1990 an einem Wochenende in Schnellkursen in Lippstadt vermittelt. Dazu hatte die SPD an der Lippe verschiedene Referenten aus der örtlichen Stadtverwaltung, den Gewerkschaften, berufsständigen Organisationen und weiteren gesellschaftlichen Gruppierungen verpflichtet. Das Spektrum der Themen reichte von Fragen des kommunalen Haushalts über die Strukturen der Stadtentwicklung, die Mitbestimmungsrechte in den Betrieben, die Bildungs- und Sozialpolitik bis hin zum Aufbau der Gliederungen der Parteien und praktischen Modellen für den Wahlkampf vor Ort. Zudem diente der Aufenthalt der Oschatzer Delegation, die in Lippstadt in den Familien ihrer sozialdemokratischen Parteifreunde untergebracht wurden, auch zum Kennenlernen der Verhältnisse in Westdeutschland. Dabei erfuhren die Lippstädter von ihren Gästen aus Oschatz, dass auch in der kleinen 850 Jahre alten Stadt ein „runder Tisch“ von der örtlichen Demokratiebewegung eingerichtet worden war. Die Oschatzer wiederum nutzten die Gelegenheit, sich in Westfalen mit konkreten Tipps auf ihre künftige Lebenssituation in einer ihnen bislang fremden Gesellschaft einzustellen. In den Monaten des politischen Umbruchs vor dreißig Jahren in der DDR war bei den Gästen aus Sachsen viel an Begeisterung für die neuen Herausforderungen zu verspüren. Doch die rasante Entwicklung in 1990 mit der Volkskammerwahl am 18. März, die Währungsunion am 1. Juli und die schnelle Wiedervereinigung am 3. Oktober bedeuteten für manchen der Akteure aus Oschatz auch erhebliche persönliche Veränderungen. Dazu zwei Beispiele: Rene Dorow, zu jener Zeit um die Dreißig und ein politisch interessierter junger Mann, betreibt nun seit dem Sommer 1990 mit seinem Vater einen Großhandelsbetrieb für Heizung, Sanitär, Flüssiggas und Stahl. Inzwischen verfügt das in einer Garage gegründete Unternehmen über mehrere Niederlassungen im Freistaat Sachsen. Ein Mitmachen in der Politik ist ihm dadurch nicht mehr möglich. Der Organisationsverantwortliche der Oschatzer SPD von 1990, Friedhelm Zieger, ein Diplomingenieur mit der Ausrichtung auf Informatik, musste sich nach der Abwicklung des Oschatzer Betriebes, in dem er schon vor der Öffnung der Grenzen gearbeitet hatte, eine neue berufliche Perspektive suchen. Sie fand er später in Bayern. Nach der ersten freien Kommunalwahl in Mitteldeutschland am 7. Mai 1990 war er noch einige Jahre Mitglied im Oschatzer Kreistag und in Lippstadt häufiger zu Besuch. Mittlerweile lebt er mit seiner Frau Sabine Zieger und seinen zwei Kindern schon seit einem Vierteljahrhundert im westlichen Teil des wiedervereinten Deutschlands. Für die Politik hatte er nach seiner Übersiedlung nach Westdeutschland keine Zeit mehr, war aber lange der Gemeinwesenarbeit als Trainer der Fußballjugend des FC Penzing

Beginn einer neuen Epoche: Sozialdemokraten aus Oschatz und Lippstadt bringen den Wahlkampf für die erste und einzige freie Wahl der Volkskammer der DDR am Sonntag, 18. März 1990, in Gang. Auf dem Bild am Sonntag, 28. Januar 1990, bei der Eröffnung des SPD-Büros in Oschatz befinden von links nach rechts Bernhard Scholl, Marlies Stotz (Lippstadt) Rene Dorow (Oschatz), Karl-Heinz Brülle, Hans Zaremba (Lippstadt) und Friedhelm Zieger (Oschatz). verbunden. Seine Frau, bereits in Oschatz Erzieherin, hatte auch in der neuen Heimat eine Tätigkeit im angestammten Beruf gefunden.

Archiv-Foto: Sammlung von Hans Zaremba