Bundestagswahl in 1972: „Willy wählen“

SPD steigt erstmals zur stärksten Partei auf

Es wird häufig gefragt, warum in der Rückschau einigen Jahreszahlen eine größere Bedeutung beigemessen wird als anderen. Dies gilt auch für 1972 mit dem imposanten SPD-Sieg bei der Bundestagswahl am Sonntag, 19. November 1972, und der Bestätigung der von Willy Brandt (1913-1992) seit seiner ersten Wahl zum Kanzler am Dienstag, 21. Oktober 1969, verkörperten Führung des innenpolitischen Aufbruchs „Wir wollen mehr Demokratie wagen“ und der Ostpolitik „Wandel durch Annäherung“.

Rücktritte

Der SPD-Triumph im November 1972, als sie erstmals in der Geschichte der 1949 gegründeten Bundesrepublik zur stärksten Partei im Parlament aufstieg und mit Annemarie Renger (1919-2008) als Bundestagspräsidentin die erste Repräsentantin der Volksvertretung stellte, war vorher keineswegs sicher. Die Mehrheit der Koalition aus SPD und FDP bröckelte durch etliche Wechsel von SPD- und FDP-Parlamentariern – wie des einstigen FDP-Chefs Erich Mende (1916-1998) – zur CDU/CSU von Woche zu Woche. Ebenso verlor das Kabinett von Willy Brandt mit den Rückritten der Sozialdemokraten Alex Möller (1903-1985) als Finanzminister im Mai 1971 und Karl Schiller (1911-1994) als Doppelminister für Wirtschaft und Finanzen im Juli 1972 zwei führende Persönlichkeiten. Folglich waren die Umfragewerte für die SPD im Frühjahr und Sommer 1972 katastrophal.

Lippstadt am Dienstag, 31. Oktober 1972: Rappelvoll war der Goldsaal im Hotel Drei Kronen, als der örtliche Bundestagsabgeordnete Engelbert Sander (vorne links) den Bundesverteidigungsminister Georg Leber zu einer öffentlichen SPD-Wahlkampfveranstaltung begrüßen konnte.

Misstrauensvotum

Überdies wurde Willy Brandt Ende April 1972 mit dem ersten konstruktiven Misstrauensvotum in der Historie des Bundestags – Abwahl als Regierungschef und Bestimmung des CDU-Oppositionsführers Rainer Barzel (1924-2006) zum neuen Bundeskanzler – herausgefordert. Diese Initiative der CDU/CSU-Fraktion scheiterte jedoch, weil ihr für den Wechsel im Palais Schaumburg mindestens zwei Stimmen fehlten. Dennoch hatte die SPD-geführte Regierung keine handlungsfähige Mehrheit mehr, sodass der von der SPD gestellte Bundespräsident Gustav Heinemann (1899-1976) nach der am Freitag, 22. September 1972, negativ beantworteten Vertrauensfrage des Kanzlers Willy Brandt den Bundestag auflöste. Zugleich legte der Hausherr der Villa Hammerschmidt Sonntag, 19. November 1972, als Termin für die Neuwahl des Bundestages fest. Für die SPD bedeutete dies, rasch eine Wahlkampfstrategie zu erstellen. Zur großen Überraschung glückte dies der SPD bundesweit mit ihrem Leiter der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit des Parteivorstandes im Erich-Ollenhauer-Haus in Bonn, Albrecht Müller, als Vater der Kampagne „Willy wählen“ sowie im Wahlkreis und in Lippstadt mit Ulrich Bunsmann aus dem Büro des Abgeordneten Engelbert Sander (1929-2004) gleichermaßen effektvoll. Mit der Bekanntgabe des Wahltermins und des feststehenden Duells um das Kanzleramt zwischen Willy Brandt und Rainer Barzel war eine konstante Steigerung der Umfragewerte für die SPD zu verzeichnen.

Lippstadt am Sonntag, 19. November 1972: Plausibel war die SPD-Empfehlung für den Wahltag. Vor fünfzig Jahren, als diese Plakette der Renner war, erfreute sich die SPD vieler Neumitglieder.
Archiv-Fotos (2): Sammlung SPD-Ortsverein Lippstadt

Musterbeispiel

Über die Vorbereitungen für den Wahlkampf hinaus hatten die Parteien – so auch die SPD –  genauso zügig ihre Kandidaten für die vorgezogene Wahl im November zu nominieren. Die heimische SPD nahm diese Entscheidung am Sonntag, 1. Oktober 1972, im Haus Wiesengrund bei Brilon vor. Zu jener Zeit bildeten die damaligen Kreise Brilon und Lippstadt noch den Bundestagswahlkreis 120.  Erst bei der Wahl am Sonntag, 5. Oktober 1980, wurde für die Region von Wickede bis Geseke des durch die Gebietsneuordnung zum Mittwoch, 1. Januar 1975, geschaffenen Großkreises ein einheitlicher Bundestagswahlkreis gebildet. Auf der Konferenz in 1972 setzte sich der Lippstädter Engelbert Sander gegen den Briloner Landtagsabgeordneten Julius Drescher (1920-2015) durch. Von den abgegebenen 90 Stimmen der Delegierten – 55 aus dem Kreis Lippstadt und 35 aus dem Kreis Brilon – entfielen 60 auf den seit dem Herbst 1969 dem Bundestag angehörenden hauptamtlichen Gewerkschaftler und 30 auf seinen Mitbewerber. „Der Patriot“ beschrieb am Dienstag, 3. Oktober 1972, die Kreiswahlkonferenz als ein „Musterbeispiel lebendiger Demokratie“.

Höhepunkt

Ein Höhepunkt des Bundestagswahlkampfes vor Ort in 1972 war die am Dienstag, 31. Oktober 1972, im Goldsaal des Hotel Drei Kronen gut besuchte öffentliche Veranstaltung „Politik des Friedens, der Freiheit und sozialen Gerechtigkeit“ mit dem Verteidigungsminister Georg Leber (1920-2012). In seiner Rede streifte der einstige Bundesvorsitzende der Gewerkschaft „Bau, Steine, Erden“ neben der Entspannungspolitik der von Willy Brandt geführten Regierung auch Fragen zur Sozial- und Gesundheitspolitik, der Chancengleichheit auf dem Bildungssektor und einer vernünftigen Vermögensverteilung. Die SPD erlebte in 1972 einen lange nicht bekannten Zulauf an neuen Mitgliedern. Zeitweilig verfügte sie in den 1970er Jahren über eine Mitgliederzahl von einer Million Frauen und Männer. Das spürte auch der SPD-Ortsverein Lippstadt, wo im Jahr 1972 die Eintritte ebenso deutlich zunahmen.

Wahlergebnis

Angesichts dieser Begebenheiten wurde im November 1972 zwar ein SPD-Wahlsieg   erwartet, jedoch nicht in der nachstehenden Höhe. Bundesweit kam die SPD auf 45,8 Prozent und die FDP holte 8.4 Punkte der Zweitstimmen, während die Unionsparteien 44,9 erreichten. In Lippstadt konnte die SPD erstmals die CDU bei einer Bundestagswahl überrunden, womit Engelbert Sander nach 1969 zum zweiten Mal in den Bundestag einzog. Auf den Ersten Bevollmächtigen der Industriegewerkschaft Metall entfielen 49,4 Prozent der Erststimmen, auch bei den Zweitstimmen lag die SPD mit 47,9 Prozent vorne.

Hans Zaremba