Fahrten in ein unbekanntes Land

Erinnerungen an die Wendezeit im Jahr 1990 von Hans Zaremba

Es waren Fahrten in ein unbekanntes Land, die vor 20 Jahren von einigen Lippstädter Sozialdemokraten in die damals noch bestehende DDR unternommen wurden. Kaum jemand von den Teilnehmern dieser Touren zum Aufbau einer demokratischen Struktur in Oschatz und in der sächsischen Region war zuvor häufiger im zweiten deutschen Staat gewesen. Mit dem Landstrich zwischen Elbe und Oder verbanden bis zur politischen Wende und dem Mauerfall viele Sozis an der Lippe überwiegend Trostlosigkeit und vor allem eine unangenehme Begegnung mit den staatlichen Organen beim Grenzübertritt oder bei der Reise auf den Wegen von und nach Berlin.

Beginn einer neuen Epoche.Sozialdemokraten aus Oschatz und Lippstadt bringen den Wahlkampf für die erste und einzige freie Wahl der Volkskammer der DDR am 18. März 1990 in Gang. Auf dem Bild vom 28. Januar 1990 befinden von links nach rechts Bernhard Scholl, Marlies Stotz (Lippstadt) Rene Dorow (Oschatz), Karl-Heinz Brülle, Hans Zaremba (Lippstadt) und Friedhelm Zieger (Oschatz).

Hilfe in Oschatz

Zwangsläufig unternahmen etliche von uns mit Beklommenheit am Samstag, 27. Januar 1990, die Reise mit dem Auto von Lippstadt nach Oschatz, wo wir uns beim Aufbau einer demokratischen Struktur einbringen wollten. Immerhin war die DDR auch nach der Öffnung ihrer Grenzen noch Mitglied des Warschauer Paktes und kein Rechtsstaat nach der uns bekannten Lesart. Doch wir waren alle beseelt, die Sozialdemokratische Partei im Osten von Deutschland zu stärken. Dies vor allem, um die DDR-SPD im Wettbewerb gegenüber der allmächtigen PDS, die unter Gregor Gysi das SED-Erbe übernommen hatte, zu unterstützen. Die erste Hilfe war praktisch angelegt. Schreibmaschinen und Druckautomaten wurden von Westfalen nach Sachsen gebracht. Personalcomputer und andere elektronische Raffinessen gab es 1990 noch nicht in der heute bekannten Breite. Auf die technischen Instrumente aus dem Westen waren die jungen engagierten Leute in Oschatz angewiesen, wenn sie gegen den im Dezember 1989 von den Nachfolgern des greisen Politbüros übernommenen riesigen Apparat der bis dato das politische und gesellschaftliche Leben ganz und gar beherrschenden Einheitspartei nicht untergehen wollten. Diese technische Ausstattung war eine wesentliche Voraussetzung für die Eröffnung des ersten Parteibüros der Oschatzer SPD, bei dem die Lippstädter Unterstützer am Sonntag, 28. Januar 1990, in dem bis Ende 1989 von der SED als Bildungszentrum genutzten Gebäude zugegen waren. Die von den Vorbesitzern bei der ideologischen Schulung verbreiteten Losungen waren noch als Aufschrieb auf den Wandtafeln zu erkennen. Aber nicht nur Geräte und Papier war bei den jungen Sozialdemokaten im anderen Teil von Deutschland gefragt. Sie mussten auch lernen, wie sich die Abläufe des politischen Alltags in einem föderal ausgerichteten Land mit kommunaler Selbstverwaltung darstellten, was sie als Bürger eines diktatorisch regierten zentralistischen Staates nicht kannten.

Momentaufnahme.So kahl und schmucklos sah es im Januar 1990 im Oschatzer Stadtzentrum aus.

Schulung in Lippstadt

Das Grundwissen über die Politik in der Bundesrepublik wurde ihnen schon vierzehn Tage später Mitte Februar 1990 an einem Wochenende in Schnellkursen in Lippstadt vermittelt. Dazu hatte die SPD an der Lippe Referenten aus der Stadtverwaltung, den Gewerkschaften und weiteren gesellschaftlichen Organisationen verpflichtet. Das Spektrum der Themen reichte von Fragen des kommunalen Haushalts über die Strukturen der Stadtentwicklung, die Mitbestimmungsrechte in den Betrieben, die Bildungs- und Sozialpolitik bis hin zum Aufbau der Gliederungen der Parteien und praktischen Modellen für den Wahlkampf vor Ort. Zudem diente der Aufenthalt der Oschatzer Delegation, die in Lippstadt in den Familien ihrer sozialdemokratischen Parteifreunde untergebracht wurden, auch zum Kennenlernen. Dabei erfuhren die Lippstädter von ihren Gästen aus Oschatz, dass auch in der kleinen 850 Jahre alten Stadt ein „runder Tisch“ von der örtlichen Demokratiebewegung eingerichtet worden war. Die Oschatzer wiederum nutzten die Gelegenheit, sich in Westfalen mit konkreten Tipps auf ihre künftige Lebenssituation in einer ihnen bislang fremden Gesellschaft einzustellen.

Zwanzig Jahre später

Es war vor zwanzig Jahren bei den Oschatzern viel Begeisterung zu verspüren. Doch die rasante Entwicklung in 1990 mit der Volkskammerwahl am 18. März, die Währungsunion am 1. Juli und die schnelle Wiedervereinigung am 3. Oktober brachten für manchen der Akteure aus Oschatz auch erhebliche persönliche Veränderungen. Dazu zwei Beispiele: Rene Dorow, zu jener Zeit um die Dreißig und der mit Friedhelm Zieger auf dem Foto auf dieser Seite zu sehen ist, betreibt seit dem Sommer 1990 mit seinem Vater einen Großhandelsbetrieb für Heizung, Sanitär, Flüssiggas und Stahl. Inzwischen verfügt das in einer Garage gegründete Unternehmen über mehrere Niederlassungen in Sachsen. Der Organisationsverantwortliche der Oschatzer SPD von 1990, Friedhelm Zieger, war nach der Kommunalwahl am 7. Mai 1990 noch einige Jahre im Kreistag von Oschatz, lebt jetzt mit seiner Frau Sabine Zieger und seinen zwei Kindern schon seit fünfzehn Jahren in Landsberg am Lech. Der heute 57jährige Diplomingenieur musste sich nach der Abwicklung des Oschatzer Betriebes, in dem er schon vor der Wende gearbeitet hatte, eine neue berufliche Perspektive suchen. Sie fand er in Bayern als Informatiker und verrichtetet seinen Job momentan vornehmlich am heimischen Schreitisch. Für die Politik hat er keine Zeit mehr, ist aber der Gemeinwesenarbeit als Trainer der Fußballjugend des FC Penzing verbunden. Seine Frau, bereits in Oschatz Erzieherin, hat auch in der neuen Heimat eine Tätigkeit im angestammten Beruf gefunden.