Jüdisches Leben in Lippstadt

Spaziergang mit Barbara Birkert

Abseits von den üblichen Treffen in den Räumen von Lokalen oder der örtlichen Sozialdemokratie richtete die Arbeitsgemeinschaft 60plus einen interessanten öffentlichen Spaziergang aus. Dazu hatte ihr Leiter Karl-Heinz Tiemann mit Barbara Birkert eine kompetente Person gewonnen, mit der die SPD-Gruppe einige Orte im Zentrum aufsuchte, die an jüdisches Leben in Lippstadt erinnern.

Geschichtsstunde bei den SPD-Senioren:Der Spaziergang zu Orten jüdischen Lebens in Lippstadt führte auch zum Erinnerungszeichen in der Rathausstraße, wo Barbara Birkert (rechts) über die wechselvolle Geschichte der Lippstädter Juden informierte. Foto: Karl-Heinz Tiemann

Zeitreise

Der Aufbruch zur 90minütigen Exkursion erfolgte am Lippstädter Rathaus. Eine kleine Zeitreise in die 1920er Jahre vermittelte der Gruppe einen ersten Eindruck darüber, wie gut sich die Lippstädter Juden in das Lippstädter Gesellschaft- und Wirtschaftsleben integriert hatten und dieses aktiv mitgestaltet haben. Dass dies nicht immer so war, erläuterte Barbara Birkert an der nächsten Station, am Jüdischen Erinnerungszeichen in der Rathausstraße. Seit dem Mittelalter lebten in Lippstadt hin und wieder Juden. Als aufstrebende Hansestadt nutzte die Stadt gerne die guten Handelskontakte der Juden. Auch beim Ausbau der Festungsanlage war die finanzielle Hilfe von Juden willkommen. Die bewusste Ausgrenzungspolitik auch der Lippstädter Handwerkszünfte, verwehrte den Juden allerdings die Ausübung eines Handwerks. Nur Geldleihgeschäfte und ein stark eingeschränkter Handel und Schlachtungen für den Eigenbedarf waren ihnen erlaubt. Außerdem durften nur bis zu zwei Familien in der Stadt leben, und zahlreiche Einschränkungen bestimmten ihren Alltag. Neid und Konkurrenzängste der christlichen Nachbarn führten immer wieder zur Vertreibung. Die Lippstädter Juden mussten für ihre Wohnerlaubnis in der Regel teuer bezahlen.

Privileg

Weltberühmt wurde der in Lippstadt geborene Astronom, Mathematiker und Historiker David Gans (1541-1613). In seiner Heimatstadt blieb er jedoch nahezu unbekannt. Die beiden Familien Gumpertz und David Hertz genossen offenbar besonderes Ansehen, denn sie wurden zwischen 1739 und 1772 vom Magistrat sogar ins Lippstädter Bürgerbuch eingetragen. Mit Blick auf den im Jahr 1991 veröffentlichten Sonderband „Leben und Leiden der jüdischen Minderheit in Lippstadt“ in der Schriftenreihe „Lippstädter Spuren“ des Heimatbundes Lippstadt, war dies ein einzigartiger Vorgang. Doch auf Dauer konnte sich die Familie dieses Privileg finanziell nicht leisten. 1779 war sie wirtschaftlich ruiniert und musste Lippstadt verlassen. Erst im 19. Jahrhundert, bis 1848, wurden die vielen Einschränkungen schrittweise aufgehoben. Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit lebten die Lippstädter Juden meistens in der Rathausstraße, weswegen sie bis 1933 „Judenstraße“ hieß. Erst mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 wurde sie in „Rathausstraße“ umbenannt. Hier lebte auch die Familie Cohn. Sie war sehr typisch für jüdische Familien in Deutschland. Der Viehhändler Nehemias Cohn war 1877 von Salzkotten hierher gezogen. Er hatte 12 Kinder, weswegen er auch „Kinder-Cohn“ genannt wurde. Er ermöglichte seinen Kindern die bestmögliche Schulbildung, Jungen wie Mädchen gleichermaßen. Einigen gelang der berufliche und gesellschaftliche Aufstieg, einige ließen sich auch taufen. Nur einem Teil der Familie gelang später die Flucht vor der Deportation.

Synagoge

Zum Rundgang der SPD-Gruppe mit Barbara Birkert gehörte auch die 1851 errichtete ehemalige Synagoge in der Stiftsstraße. Erstaunt waren die SPD-Senioren, als sie erfuhren, wie modern die Lippstädter Synagoge geführt wurde. Die Gemeinde hatte ausdrücklich auf die allgemein übliche Frauenempore verzichtet. Ähnlich wie damals in den Kirchen üblich, saßen in der Lippstädter Synagoge die Frauen auf der linken und die Männer auf der rechten Seite. Außerdem hatte die Gemeinde für die Eröffnungsfeier den eigentlich zuständigen Landesrabbiner abgelehnt, da dieser ihnen zu konservativ war. Stattdessen luden sie Deutschlands berühmtesten Reformrabbiner ein, Ludwig Phillippson aus Magdeburg. In der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurde die Lippstädter Synagoge bis auf die Außenmauern zerstört. Die Überreste des Gotteshauses gibt es noch, da die jüdische Gemeinde aufgrund ungeklärter Umstände das Grundstück zuvor an einen Nachbar verkauft hatte, der es für sich nutzen wollte. Nach dem Krieg wurde der Kaufvertrag rückgängig gemacht. Da es aber auch keine jüdische Gemeinde mehr gab, wurde es erneut verkauft, und die Reste wurden umgebaut. Mittlerweile ist die ehemalige Synagoge von der Straße aus nicht mehr zu sehen. Hier erinnern heute nur noch eine Gedenktafel und ein Modell aus Edelstahl an die frühere Synagoge.

Hans Zaremba