Rekordbeteiligung führte zum SPD-Triumph

Erinnerung an die Bundestagswahl am Sonntag, 19. November 1972

Für die Sozialdemokratie in Deutschland war der Sonntag, 19. November 1972, ein denkwürdiger Tag. Bei der um ein Jahr vorgezogenen Wahl des siebten Deutschen Bundestages erlangte die SPD mit ihrem Spitzenkandidaten, Bundeskanzler Willy Brandt (1913-1992), mit 45,8 Prozent der Zweitstimmen ihr bislang bestes bei einer Bundestagswahl erzieltes Ergebnis. Überzeugend war für die Sozialdemokratie vor einem halben Jahrhundert auch ihr Erfolg in Lippstadt mit 47,9 Prozent der Zweitstimmen. Zudem erreichte der örtliche Bundestagsabgeordnete Engelbert Sander (1929-2004) in Lippstadt mit 49,4 Prozent der Erststimmen gleichfalls einen Sieg. Die Sozialdemokratie konnte in 1972 mit ihren hohen Anteilen bei den Erst- und Zweitstimmen erstmals in Lippstadt die CDU bei einer Bundestagswahl übertrumpfen.

Bonn im Frühjahr 1972: 
Ein halbes Jahr später hatten Willy Brandt und Engelbert Sander allen Grund, sich über die guten SPD-Ergebnisse bei der Bundestagswahl im November 1972 zu freuen.

„Markenartikel“

Entscheidend für den bundesweiten Triumph der SPD war neben der gewinnenden Persönlichkeit von Willy Brandt ihr professionell geführter Wahlkampf, den der damalige Leiter der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit des SPD-Parteivorstandes in Bonn, Albrecht Müller (Jahrgang 1938), organisierte. Dabei benutzte der spätere Planungschef im Kanzleramt unter Willy Brandt und Helmut Schmidt (1918-2015) erprobte Werbemittel aus der Wirtschaft. Das war vor 50 Jahren zwar kein ganz neues Phänomen, aber durchaus wirkungsvoll. Es trug nach dem gescheiterten Misstrauensvotum am Donnerstag, 27. April 1972, in der politisch aufgeheizten Atmosphäre zur Rekordwahlbeteiligung von 91,1 Prozent bei. In 2021 waren es nur 76,6 Prozent. Am Ende war es der „Markenartikel“ Willy Brandt mit dem Slogan „Willy wählen“, der den Ausschlag zugunsten der Sozialdemokratie gab. Die gelungene Kampagne aus dem Herbst 1972 war für die späteren SPD-Erfolge bei den Bundestagswahlen in 1998 in der Regie des Bundesgeschäftsführers Franz Müntefering und in 2011 in der Verantwortung des Generalsekretärs Lars Klingbeil ein Modell. Vor Ort hatten die Sozialdemokraten in 1972 mit dem erst 20 Jahre alten Vorsitzenden der Jungsozialisten im Kreis Lippstadt, Ulrich Bunsmann, einen kongenialen Partner für den Willy-Wahlkampf. Dem hauptamtlichen Mitarbeiter aus dem Lippstädter Bürgerbüro des Parlamentariers Engelbert Sander gelang es, die Bonner Leitlinien mit den regionalen Geboten für die Public Relations der SPD im Wahlkreis Brilon-Lippstadt famos zu verbinden.

„Willy wählen“

Der Bundestagswahlkampf von 1972 gilt als einer der ersten personalisierten Wahlkämpfe der SPD. Schon in 1961, 1965 und 1969 waren die Kanzlerkandidaturen von Willy Brandt stark auf seine Persönlichkeit und sein Medien-Image ausgerichtet. Nicht die Wahl der SPD oder die Fortsetzung der sozial-liberalen Koalition wurde 1972 zum Motto bestimmt, sondern schlicht „Willy wählen“. Eine Devise, die vor fünf Jahrzehnten auf zahllosen Plakaten, Flugblättern sowie Spruchbändern an den Heckscheiben vieler Kraftfahrzeuge zu finden war.

Deutschland im Herbst 1972:
Der von der SPD-Wahlkampfmaschinerie entworfene Button wurde vor fünfzig Jahren von zahlreichen Sympathisanten der Sozialdemokratie stolz auf der Brust getragen.
Archiv-Fotos (2): Sammlung Hans Zaremba

Begeisterung

Während in 1961, 1965 und 1969 Willy Brandt von seiner Partei zu den jeweiligen CDU-Kanzlern als Herausforderer antrat, wurde der Wahlkampf in 1972 durch andere Voraussetzungen geprägt. Der SPD-Vorsitzende war seit drei Jahren Kanzler, warb somit für einen Verbleib im Amt und nicht für die Eroberung der Position. Die von ihm repräsentierte Politik – Öffnung nach Osten und Aufbruch im Inneren mit dem Programm „Mehr Demokratie wagen“ – hatte in breiten Teilen der deutschen Bevölkerung viele Befürworter, aber zugleich eine große Zahl von Gegnern. Die Begeisterung der jüngeren Wählerschaft für den Mann im Kanzleramt spiegelte sich auch bei den Mitgliederzahlen der SPD wider, sie war damals auf eine knappe Million angewachsen. Derzeit – ein Jahr nach der letzten Bundestagswahl in 2021 – soll die Zahl rund 390.000 Genossinnen und Genossen betragen. 

Personen

Zurück zum Wahlausgang am Sonntag, 19. November 1972: Durch das eindrucksvolle SPD-Ergebnis mit 45,8 Prozent und den 8,4 Punkten für die FDP konnte die seit dem Herbst 1969 bestehende Koalition in Bonn ihre Arbeit fortsetzen. Die Opposition aus den Unionsparteien hatte 44,9 Prozent erringen können. Willy Brandt wurde am Donnerstag, 14. Dezember 1972, vom Bundestag als Kanzler bestätigt. Doch gleichzeitig wurden in der SPD mit der zunehmenden Entfremdung zwischen dem Hausherrn im Palais Schaumburg und dem Chef der SPD-Bundestagsfraktion, Herbert Wehner (1906-1990), Risse offenkundig. Das gipfelte am Montag, 6. Mai 1974, in den Rücktritt von Willy Brandt und am Donnerstag, 16. Mai 1974, in die Wahl von Helmut Schmidt zum neuen Kanzler. Aus Lippstadt zog nach dem Votum im November 1972 der 1969 bereits als Nachfolger von Jakob Koenen (1907-1974) ins Parlament gelangte hauptamtliche Gewerkschaftler Engelbert Sander über die SPD-Landesliste erneut in den Bundestag ein. Dem gehörte er mit einer kurzen Unterbrechung von 1976 bis 1978 noch bis zum Ende der zehnten Legislaturperiode (1983-1987) an. Später folgte auf ihn für die SPD aus der heimischen Region von Januar 1995 bis September 2009 Eike Hovermann (Lippstadt-Overhagen) und im Juni 2012 Wolfgang Hellmich aus Soest.

Hans Zaremba